Ein Junge und ein älterer Herr sitzen an einer Straßenkreuzung und essen Mandarinen.

Eine Schülerin aus der AG »Kreatives Schreiben« hat eine Weihnachtsgeschichte verfasst, die den Geist der Weihnacht schön einfängt und zum Nachdenken anregt:

Die nächtliche, nigerianische Luft war frierend und die Palmen verbeugten sich zu einem matschigen Weg, auf dem ein Wanderprediger mit flapsigen Schritten stolperte. Seine Fingerspitzen waren orange gefärbt von der Fruchthaut einer fast gelblichen Mandarine. Eigentlich gab es nichts, wozu man sich möglicherweise verbeugen könnte. Doch trotzdem dachte er, dass die Szenerie, in der er sich befand, nicht besser sein könnte.

Eben erst war er aus dem Vatikan entlassen worden. Dort hatte er über zwanzig Jahre den Heiligen Josef im Krippenspiel des Petersdoms am Nachmittag des 24. Dezembers dargestellt. Die vorsichtig angefertigten Seidenstoffe umklammerten seine Figur, als er sich auf der Bühne von Kulisse zu Kulisse bewegte. Jeder seiner Sätze war in sein Wesen nach jahrelanger Übung eingebrannt worden. Doch dies war keineswegs negativ zu betrachten. Es war nicht zu bezweifeln, dass er das Schauspielern bis zu einem bestimmten Augenblick immer geliebt hatte.

Da niemand schließlich unsterblich war, ließ mit dem Alter sein Sehvermögen deutlich nach und eines unglücklichen Tages stolperte er während einer Aufführung über das Jesuskind. Das Erstaunen des Publikums, der anderen Schauspieler und sein eigenes war mehr als genug um ihm zu zeigen, dass seine Karriere zum größten Teil beendet war.

Es war nicht zu fassen, in welch kurzer Zeit sein bisher gelungenes Leben eine Kehrtwende einnahm. Er betrachtete, wie seine Kollegen plötzlich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Ist ja peinlich, haben sie geflüstert. Es war unbekannt, ob diese Peinlichkeit sie selbst oder den nun mental zerbrochenen Mann umfasste.

Der Gedanke, dass sein Fehler sich wie ein Virus über den Vatikan verbreiten würde, machte ihn krank. Das Krippenspiel war das Highlight jeden Jahres und es gab nur wenige, die dessen Bedeutung für die Weihnachts-Kultur nicht kannten. Was wäre, wenn er eines Tages Brötchen kaufen würde und selbst die nette Verkäuferin ihn nicht mit einem hallo, sondern einem sind Sie nicht der Mann, der übers Jesuskind stolperte begrüßen würde?

Das konnte er nicht erlauben.

Er erhoffte sich einen Neuanfang.

Also nahm er ein Taxi zum Flughafen und buchte den nächstmöglichen Flug. Nur seinen Reisekoffer und seinen Tretroller hatte er impulsiv mitgenommen. Zeit zum Nachdenken gab es keine. Dies war sein Moment. Er würde sein Leben wieder unter Kontrolle kriegen!

Alles wäre fast perfekt gelaufen, bis er in das falsche Flugzeug stieg. Während er über Wolken schwebte, träumte er nur von seinem Neuanfang. Vielleicht würde Broadway ihn aufnehmen? Oder er könnte einen Kurs unterrichten? Er verfiel in eine Trance, die bis zu seinem Ausstieg aus dem Flugzeug anhielt.

Seine abrupte Erkenntnis dauerte im Vergleich dazu nur wenige Sekunden.

Der Flughafen sah nicht nach New York aus. Sein Gepäck war auch nicht aufzufinden. Er durchsuchte seine Taschen hektisch nach irgendetwas, was ihm weiterhelfen könnte, doch alles, das er besaß, waren zwei Mandarinen, welche ihm eine Flugbegleiterin irgendwo im Himmel in die Hand gedrückt hatte.

Hektisch sah er sich um, bis seine Augen ein gelbes Schild entdeckten.

Welcome to Nigeria!

Er blinkte zweimal, bevor er anfing, seine Brille mithilfe seines Hemdes zu putzen. Zuerst wollte er sich selbst schlagen, in der Hoffnung, dass er in seinem Bett aufwachen würde und all dieser Unsinn nur ein irrer Traum sei. Er wusste nicht einmal ganz genau, wo Nigeria überhaupt lag.

Mit schwerem Herzen und leeren Händen taumelte er aus dem Flughafen heraus und spazierte durch die nächtlichen Straßen, die von fernem Autohupen und vereinzeltem Lachen erfüllt waren. Der Weg führte ihn ständig tiefer in das ihm unbekannte Land, bis er auf einer staubigen Kreuzung stehen blieb. Er beobachtete die rot schimmernde Ampel, um deren Wärme sich zahlreiche Mücken sammelten. Auf der anderen Straßenseite saß ein Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, auf einem verrosteten Eimer. Sein Gesicht war schmal, seine Kleidung verschlissen, doch seine Augen strahlten eine unerschütterliche Neugier aus.

Sobald er den Unglücklichen bemerkte, leuchteten die Augen des Jungens auf. »Hallo, Mister!«

Der Mann hielt inne, unsicher, ob er wirklich gemeint war. Doch sobald der Junge ihm entgegenblickte, erkannte er, dass das Lächeln nicht nur ihm galt, sondern ein Ausdruck reiner Freundlichkeit war. Etwas, das er seit seinem ungewollten Unfall während der Aufführung lange nicht mehr erlebt hatte.

»Hallo«, sagte der Mann schließlich und bemerkte, wie rau seine Stimme klang. » Was machst du hier? Es ist spät.«

»Ich verkaufe Sachen«, antwortete der Junge und deutete auf ein paar kleine Tütchen mit Erdnüssen, die neben ihm in einer schönen Reihe lagen. »Die meisten Leute haben heute aber kein Geld.«

Der Mann ließ seinen Blick über die wenigen Münzen in der Blechdose des Jungen wandern und fühlte eine Welle von Mitgefühl und Scham. Die meisten Leute hatten immer Geld. Sie waren nur nie bereit dazu, es jemandem in der Not zu geben.

Der Unglückliche hatte sich selbst so sehr bemitleidet, dass er vergessen hatte, dass Menschen unter viel schwierigeren Umständen lebten. Ein Moment voller Peinlichkeit wäre für sie keine Besorgnis, wenn sie wüssten, dass sie zahlreiche weitere Chancen im Leben hätten.

Er hatte sein Privileg im Leben fast schon als etwas Selbstverständliches angesehen.

Seine Hand wanderte in die Manteltasche und er zog eine der Mandarinen hervor. »Hier, nimm. Ich habe nicht viel, aber das kann ich dir geben.«

Die Augen des Jungen leuchteten auf, als er die Mandarine entgegennahm und anfing, sie vorsichtig zu schälen. Der süßliche Duft mischte sich mit der kühlen Nachtluft. »Danke, Mister,« sagte der Junge, während er ein Stück der Frucht abbrach und dem Mann entgegenhielt. »Zusammen schmeckts besser.«

Zögernd nahm er das kleine Stück und setzte sich neben den Jungen. Gemeinsam aßen sie schweigend, bis der Junge erneut sprach. »Warum bist du hier? Du siehst aus, als gehörtest du woanders hin.«

Der Mann lachte trocken. Wenn der Junge nur wüsste. »Ich bin hier aus Versehen gelandet. Und vielleicht ist das genau das Problem. Ich weiß nicht mehr, wohin ich überhaupt gehöre.«

Der Junge nickte nachdenklich. »Meine Mama hat mal gesagt, dass man immer irgendwohin gehört. Das Leben ist nicht durchgehend ganz zufällig.«

Der Pechvogel kaute an der Mandarine, bis diese fast keinen Geschmack mehr in seinem Mund hatte. Er dachte an die Rolle des Josef, an all die Jahre, in denen er anderen Geschichten von Hoffnung und Zusammenhalt erzählt hatte. Wo Leute nach der Aufführung den Theatersaal mit offenen Augen und Herzen verließen, bereit, die Farben ihrer vorherigen Trauer in ein entzückendes Kunstwerk zu verwandeln. Und jetzt, hier in einem Land, das ihm so fremd war, war ein kleiner Junge dabei, ihn daran zu erinnern, was wirklich zählte.

»Weißt du,« begann der Mann, während er den letzten Mandarinenfetzen zwischen den Fingern drehte, »in meinem Land essen wir Mandarinen oft an Weihnachten. Irgendwie sind sie wie ein kleines Geschenk, das man mit jedem teilen kann.«

Der Junge lächelte wieder. »Das ist ein cooles Geschenk. Besser als Erdnüsse.«

Der Mann lachte. Ein echtes Lachen, das seine Brust warm durchströmte. Dann richtete er den Blick gegen den Himmel, wo die Sterne hell leuchteten und ein paar Flugzeuge wie Sternschnuppen durchzogen. Er erinnerte sich an einen Satz aus dem Krippenspiel, den er so oft gesagt hatte, dass er ihn kaum noch beachtete.

Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude.

Vielleicht war es an der Zeit, wieder an diese Freude zu glauben.

Der Gedanke, dass das Schicksal ihn in genau diesem Moment haben wollte, war ungewöhnlich für seinen Geschmack der Selbstreflexion. Er würde normalerweise vor der Annahme anderer Sichtweisen zurückschrecken. Der süßliche Saft der Mandarine klebte an seinen Lippen, als er die ersten Sterne am Himmel erblicken konnte. Aus einem ihm derzeit unbekannten Grund sah der Himmel anders aus, als der von Rom bemalte. Vielleicht war dieser neue Blickwinkel genau das, was er brauchte um nach zahlreichen Unannehmlichkeiten sich nicht auf das dunkle Vergangene, sondern auf die helle Zukunft zu konzentrieren.